Wien 11.11.2023 Brief über Toni Morrison

Meine liebe Freundin!
Nach deiner Anfrage zu Toni Morrison`s Erzählung „Rezitativ“ habe ich mich schlau gemacht und Rezitativ“ nochmals gelesen. Auch in vertiefender Literatur und in Rezensionen darüber habe ich geschmökert. Gerne schreibe ich dir, wie ich diesen Text verstehe und was er in mir auslöst, auch als Anthropologin.

Zuerst zum Inhalt: Morrison beschreibt, wie sich zwei achtjährige Mädchen in einem Waisenhaus begegnen. Sie werden 4 Monate zusammen im gleichen Zimmer schlafen und auch sonst die meiste Zeit zusammen sein. Zuerst sind sie nicht besonders begeistert darüber, denn wie Tyler, eines der Mädchen erzählt, sind sie wie Salz und Pfeffer, die eine ist Schwarz, die andere Weiss. (Rüther 2023)Wir lesen über ihre
alleinerziehenden Mütter, dass die eine immer tanzt und die andere immer krank ist. Wir erfahren, dass das Essen dem einen Mädchen schmeckt und dass die andere es furchtbar findet. Was wir nicht erfahren ist, welche der beiden Mädchen die mit der „weißen“ Haut ist und welche die mit der „schwarzen“.
Morrison hat diese ihre einzige Erzählung 1983 geschrieben und führt uns durch Zeitzonen und Lebensabschnitte. Sie bleibt dabei der Leser:in die eindeutige Benennung der Hautfarbe vorzuenthalten. Das macht Spannung. Sie führt uns, eigentlich nicht sie, sondern die Bilder und Vorurteile der Leser.in in eine Richtung. Als Anthropologin ist das spannend, da es aufdeckt. Rüther, der Kolumnist der FAZ schreibt sogar von „in einen Abgrund aus Scham fallen“. Denn die Zuordnung deckt die Stereotypen auf, die wir auch sonst im Kopf haben. Meine jedenfalls.
Denn welche Mutter ist die, die schlecht angezogen ist, oder die, die ein riesengroßes Kreuz auf der Brust trägt. Welche bringt Essen mit, und welche nicht? Ist es die weiße Mutter oder die schwarze die schlecht kocht und anscheinend wenig Verantwortungsbewusstsein hat.

Auch später, wenn die beiden junge Frauen sind und wieder aufeinander treffen, werden die Hinweise nicht eindeutiger. Eine ist Servierkraft, die andere Hippie und am Weg zum Hendrix Konzert. Und noch später, im Supermarkt als die eine an der Kasse sitzt und die andere schick und teuer gekleidet einkauft. Wieder sind unterschiedliche Bilder im Kopf. Dann will ich ja ja ja nicht rassistisch sein. Kann doch auch eine schwarze Frau mit Chauffeur zum Supermarkt geführt werden. (der Ehemann ist wahrscheinlich im Showgeschäft oder Gangster - auweh) Im Postcast „DieBuch“ führen die Afrikawissenschaftlerin Miša Krenceyová und die Literaturwissenschaftlerin Tomi Adeaga mit einer der Gründerinnen von „Die Buch“ Julia Ritter ein Gespräch vor Publikum über Toni Morrison und „Rezitativ“.
Miša Krenceyová meint, dass es nicht möglich ist eine auflösende Zuordnung zu machen. Das uns jedoch Morrison dahin führen will herauszufinden, wie wir Zuschreibungen machen. Welche rassialisierten Stereotypen uns bei der Auslegung zur Verfügung stehen, denn je nach Vorbildwissen deuten wir.

So erging es mir. Immer wieder dachte ich, das wäre jetzt ein Hinweis, um den Gedanken im nächsten Moment zu verwerfen. Die eine Mutter in engen grünen Hosen – schwarz! Nein, wieso? Könnte doch auch weiss sein. Im Lokal, auf der Fahrt zum Jimmi Hendrix Konzert sehe ich eine dunkelhäutige Frau mit Wuschelmähne. Es könnte doch auch eine Weiße sein.
Eher weisen diese Codes noch auf die Klasse hin. Und wenn die dann mit der Hautfarbe gleichgesetzt wird, na dann danke! Siehe Rüther oben - Scham!
Ich merke wie mein Vorbildwissen gering- nein geprägt ist. Ich war nie in einem afrikanischen Land. Ich hatte einmal einen! Freund mit anderer als „weißer“ Hautfarbe.
Ich selbst hatte als Baby eine dunkle Gesichtsfarbe (geb. 1947). Mein Großvater führte mich im Kinderwagen spazieren und eine Bekannte betrachtete mich und sagte. „Mei, so a liabes Negerkind“!

Ich finde den Text von Toni Morrison genial und aufdeckend. Jetzt sind es 40 Jahre später, nach dem Toni Morrison ihn zum ersten Mal veröffentlichte. Jetz findet er große Beachtung - im literarischen Kanon.
Unbedingt lesen.
Liebe Grüße und ich freue mich auf Resonanz Hermine https://www.frauenreise.at/index.php/blog?start=123 (da war schon mal was zu Toni Morrison)

[1] TOBIAS RÜTHER (2023)“ Wo das Vorurteil beginnt“ über „Rezitativ“ von Toni Morrison. FAZ Online –Artikel, aktualisiert am 26.03.2023-22:55
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/toni-morrisons-erzaehlung-rezitativ-erstmals-auf-deutsch-18772969.html [10.11.2023]
[2] https://www.diebuch.at/87-klassikerinnen-live-lesen-wir-rassistisch-wie-toni-morrison-den-literaturkanon-aufmischt-rezitativ-von-toni-morrison/ (10.11.2023)

WV 3.11.2023 Noch Sonne und Farben

Grippaler Infekt zwingt, gleichzeitig ermöglicht mir wieder in Klausur zu gehen. Meinen üppigen Aufgaben für die Sozial-und Kulturanthropologie nach zu kommen tut das gut. Mein Assistent ist bereit. An meiner Seite auf einem alten Schaffell liegend stärkt er mir den Rücken. Kurze Schnupperphasen im Garten. Der leuchtet farbig dahin. Die Wiese ist wie ein Teppich in gelb, orange und rot. Einige Isabella Trauben hängen noch. Nasche im Vorbeigehen dran. Die Himbeeren sind jetzt wirklich dahin. Hab ein paar und auch Dirndeln in Schnaps eingelegt. Winterstamperl (auch Herbst). Zudem ist mir endlich - oh wonder - gelungen einen Radio im Stall, wo ich arbeite, zu aktivieren. Bin ja Radiohörerin. Eben über das Klezmerfestival in Wien. Die Arbeit über Dios de Muertos hat gut getan. Spüre gerne hin. Meine Tante, sie wurde unglaubliche 96 Jahre alt, hat sich verabschiedet. Sie wollte es jetzt auch. Als ich sie zuletzt sah, war es schön, sie so munter und pfiffig zu sehen.
Jetzt gehe ich das Thema Identität, Rassismus an. Lese Text „Schwarze Haut und weiße Maske“ 1952 von dem Psychiater und Theoretiker Franz Fanon. Höre ein Interview mit Mithu Sanyal. Autorin von Vulva, die Enthüllung.

    

WV 1.11.2023 Dias de Muertos


Ich bin der Einladung des Weltmuseums in Wien gefolgt und zum mexikanischen Totenfest gegangen. Habe mir noch eine Blume ins Haar gesteckt und die roten mexikanischen Stiefel angezogen. Treffe mich mit Ona in der gefüllten Säulenhalle, wo die Präsentation des  Totenaltares schon im Gange ist. Geschmückt von orangfarbenen Kunst Targete und Näschereien für die Verstorbenen. Schnaps muss auch sein und deren Fotos. Je mehr ich schreibe (eine Aufgabe für die Kulturantropologie) desto tiefer tauche ich ein und denke mehr zu verstehen vom Gedenken und vom Feiern, vom schwingenden Netz zwischen den Lebenden und den Toten. Es ist so ein riesiger Unterschied zum österreichischen Allerheiligen. Bunt, laut, mit Musik, fröhlich.
  
Die Künstlerin Stephany Rodríguez Cabañas gestaltet für das Weltmuseum Wien eine Ofrenda,(Totenaltar) die von 26. Oktober bis 7. November in der Säulenhalle kostenlos zu sehen ist.

Unterkategorien

Hermine Brzobohaty-Theuer | Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Adresse: 1030 Wien, Stanislausgasse 4/9 | Tel.: +43 676 47 49 112

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.